Heute ist Frühlingsanfang

Heute ist  Frühlingsanfang.

Meine Oma wäre heute 102Jahre alt geworden. Sie ist 1986 gestorben. Viel ist seitdem in meinem Leben geschehen, die Welt hat sich verändert. Nein, nicht die Welt. Aber die Menschen darauf, gesellschaftliche Gefüge haben neue Formen angenommen, zum Teil zum Besseren, zum Teil aber auch zum Schlechteren. Meine Oma würde sich nicht mehr zurecht finden. Ich finde mich manchmal auch nicht mehr zurecht. Was  mir heute noch richtig erscheint, erweist sich morgen als falsch. Was eben noch wichtig war, ist im nächsten Moment unbedeutend. Lug und Trug haben im Leben einen festen Platz eingenommen. Moralische Instanzen, integre Leitfiguren, werden rar. Meine Oma hat mich Ehrlichkeit und Bescheidenheit gelehrt. Erst mit zunehmenden Alter beobachtete ich, dass sie die Maßstäbe, die sie setzte, selbst nicht erfüllen konnte. Dennoch ist tief in mir die Sehnsucht nach Ehrlichkeit, danach, die Menschen nach ihren Worten beurteilen zu können. Ich möchte glauben, was mir gesagt wird. Das wachsende Misstrauen ängstigt mich.

Heute ist Frühlingsanfang.

Heute bin ich Oma. Ich sehe zwei Kinder aufwachsen in dieser Welt. Sie sind wie Schwämme, die alles aufsaugen, alles Neue bestaunen, lernen, lachen, begreifen, vertrauen. Ihre Eltern werden sie anders erziehen müssen, als ich erzogen wurde. Anders auch, als ich meine Kinder erzogen habe. Ehrlichkeit, Respekt vor demLeben, ein starkes Selbstwertgefühl, Mitgefühl, bedingungloses Vertrauen zu den Eltern waren meine Erziehungsideale. Gewaltlosigkeit gehörte ebenso dazu wie Gerechtigskeitsempfinden. Meine Enkel werden Dinge lernen müssen, die ich versäumt habe, meinen Kindern nahezubringen. Sie werden lernen, dass es in der Welt nicht friedlich zugeht. Sie werden lernen müssen, dass es auch im Mikrokosmos der Familie Konflikte gibt. Dass Menschen, die sonst liebevoll miteinander umgehen, sich  streiten. Sie werden lernen, dass man für Ideale mitunter kämpfen muss. Auf keinen Fall gehört die Bescheidenheit, die meine Oma mich lehrte, dazu. Denn das war falsche Bescheidenheit, unterdrückende Bescheidenheit.

Heute ist Frühlingsanfang.

Die Tage werden deutlich länger, heller, bunter. Ich freue mich meines Omaseins. Ich werde meine Enkel nicht erziehen müssen, ich darf sie einfach nur lieben. Ich freue mich auf den Spaß mit ihnen. Ich möchte mit ihnen singen und malen, ihre Fragen beantworten, mit ihnen wieder staunen können. Mit ihnen die kleinen Wunder der  Welt neu entdecken. Das Erwachen der Natur nach einem langen Winter gehört dazu.  Meine Enkel haben mich bereits eine neue Sichtweise gelehrt. Durch ihre bloße Existenz. Das ist das Prinzip Hoffnung. Denn heute ist Frühlingsanfang

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4 Antworten zu Heute ist Frühlingsanfang

  1. Jens Volckmann schreibt:

    Wenn man sich das auf der Zunge zergehen lässt, dann ist „zurecht finden“ eigentlich ein überraschend passender Ausdruck für den Zustand den du beschreibst: „Ich kann in dieser Welt nicht zum Recht finden.“
    Erstaunlich, dass in einem so kleinen Ausdruck so viel Potential liegt. Es sind deine moralischen Vorstellungen, die du dir bewahrt hast, Vorstellungen von richtig und falsch, von recht und unrecht. Daran hat sich in dieser Welt nichts geändert. Nur das Gegenstück zur praktischen Moral, das System also, in das deine Moralvorstellungen eingebettet sind, die theoretische Ethik der Gesellschaft, hat sich gewandelt. Der Vater der Soziologie, der Franzose Émile Durkheim, beschreibt das als Anomie: Wenn sich die Gesellschaft stetig – technisch, wirtschaftlich, wissenschaftlich – weiterentwickelt, aber die ethische Entwicklung stagniert.
    Für die Gesellschaft ist das natürlich schlecht. Für deine Enkeltocher und deinen Enkelsohn hingegen ist das ein wahrer Glücksfall. Denn wenn in einer Gesellschaft, die Ethik als Abstraktum mehr oder weniger hinter sich zurücklässt, Einzelne noch immer moralisch so gefestigt sind, dann sind diese Einzelnen nichts anderes als: Vorbilder.

  2. mayarosa schreibt:

    Liebe Elvira,
    das hast du sehr schön ge-/beschrieben. Ich glaube, das mit dem Zurechtfinden in der Gesellschaft hat nur begrenzt etwas mit dem Alter oder unserer Zeit zu tun. Ich denke zu allen Zeiten gab und gibt es Menschen, die strenge Moralvorstellungen verinnerlicht haben und nach diesen leben (wollen) und solche, für die Moral eher Mittel zum Zweck ist und die vor allem danach streben, sich das größte Stück vom Kuchen zu sichern.
    Ich selbst habe lernen müssen, dass mich Menschen manchmal falsch verstehen, weil bei mir vielleicht vielleicht bedeutet und ich erst dann Zusagen mache, wenn ich sie auch einhalten kann. Andere verstehen bisweilen ein Vielleicht als ein Nein und ein Ja verstehen sie als Vielleicht, oder so ähnlich.
    Gelungene Erziehung bedeutet wohl, dem Kind einerseits eine gefestigte und konsistente Moralvorstellung mitzugeben, die es zu einem sozialen und achtsamen Wesen werden lässt und ihm gleichzeitig soviel Freigeist und Gnade mitzugeben, dass es mit den eigenen Fehlern und dem Fehlverhalten anderer umgehen kann.
    Ein Zitat: „Nach ihren Taten, nicht nach ihren Worten soll man die Freunde wägen.“ von Titus Livius (ca. 59 v. Chr. bis ca. 17 n. Chr., römischer Geschichtsschreiber)
    Liebe Grüße

    • Hallo, Mayarosa!
      Danke für Deinen Kommentar. Wenn ich meine Kinder heute erneut großziehen müsste, würde ich (fast) alles wieder so machen. Den Heile-Welt-Faktor würde ich allerdings minimieren.
      Dein Zitat von Livius passt ja gerade gut in die politische Debatte um den Atomausstieg! Was hörte ich heute? „Wenn die Regierung nicht weiter weiß, bildet sie einen Arbeitskreis“, oder so ähnlich! Da bin ich auf die den Worten folgenden Taten schon mal sehr gespannt!
      Sei lieb gegrüßt!

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