Nie hast Du Zeit oder Unterm Grünen Rasen

„Warum hast Du es denn immer so eilig? Immer musst Du gleich wieder weg.“

Stille. Ich drehte mich vorsichtig um. Das alte Ehepaar saß immer noch auf der Bank. Es hatte mir nachgesehen. „Haben Sie etwas vergessen?“, fragte die Frau. “Nein! Ich dachte, Sie hätten etwas zu mir gesagt.“. Sie schüttelte den Kopf. Ich zuckte mit den Schultern und setzte meinen Weg fort.

„Du warst lange nicht mehr hier!“ In der Stimme lag der bekannte Vorwurf. Wie gut ich diese Stimme kannte. Seit Anbeginn meiner Zeit hat sie mich begleitet. Ungläubig drehte ich mich erneut um. Da stand sie. Fast durchscheinend. Alleine auf der Wiese. Langsam ging ich den Weg zurück.

Das Ehepaar war aufgestanden und schlurfte schweren Schrittes an mir vorbei. Ihren Abschiedsgruß erwiderte ich ohne sie anzusehen.

Dann stand ich ihr gegenüber. Ihr kurzes graues Haar kräuselte sich im Nacken, wie immer an heißen Tagen. Sie hatte Rouge aufgelegt, die Augenbrauen waren sorgfältig nachgezogen, die Wimpern leicht getuscht. Nur selten hatte ich sie ohne Lippenstift gesehen. Auch jetzt trug sie diesen sanften Rotton, der seine Spuren auf jeder Kaffeetasse hinterlassen hatte. Wie schön sie war! Es roch nach ihrem Parfum.

„Du bist also gekommen.“ Es war eher eine Feststellung, denn eine freudige Begrüßung.

„Ich habe Dir eine Hortensie mitgebracht. Schau, diese hier. In Deiner Lieblingsfarbe.“

„Aber Kind, bei der Hitze verblüht sie doch ganz schnell. Das Geld hättest Du Dir sparen können.“

Ich sah auf die Vase, die zwischen all den anderen Sträußen und Gestecken stand. Die Hortensie steckte ihre altrosa Blüten der Sonne entgegen.

„Ich dachte, Du freust Dich.“

„Ich würde mich mehr freuen, wenn Du öfter kommen würdest. Und nicht gleich wieder gehst.“

Ich seufzte. Sie hatte ja Recht. Aber sie war ja nie da gewesen. Nur diese große Wiese. Grashalm an Grashalm. An drei Seiten von Wegen umgeben, an der vierten Seite Sträucher und Büsche. In deren Mitte ein großes Steinkreuz. Ein Fels in diesem Totenmeer. Und doch nur eine vage Orientierungshilfe.

„Warum hast Du das so haben wollen?“

„Was?“

„Diese Wiese.“

„Das weißt Du doch! Ihr solltet nicht so viel Arbeit haben.“

„Aber ich hätte diese Arbeit gerne gehabt.“

„Das sagst Du jetzt. Aber warte mal ab. In 5 oder 10 Jahren wäre Dir das zuviel geworden. Du bist schließlich auch nicht mehr die Jüngste.“

Sie war immer noch so direkt. Ich scheuchte den Anflug von Verletztheit fort.

„Außerdem wärst Du die Einzige, die noch hier ist. Deine Kinder würden doch sowieso nichts machen.“, fuhr sie fort.

„Aber ich hätte es so gerne gemacht. Schau Dich doch um. So viele schöne Beete. Ich hätte so viel Zeit bei Dir verbringen können. Stell Dir nur vor, wie schön ich alles hätte bepflanzen können. Im Herbst hätte ich ganz viele Tulpenzwiebeln gesetzt. Dann wäre das heute eine wahre Blumenpracht gewesen.“

„Und wer würde immer gießen kommen? Du hast doch Deine Arbeit. Und Familie. Und eine Enkeltochter.“

„Ich habe jetzt auch noch einen Enkelsohn. Du bist schon zweifache Uroma.“

Ich machte eine kurze Pause.

„Weißt Du, das Gießen wäre kein Problem geworden. Es sind doch nur ein paar Schritte von der Wohnung bis hierher. Aber das hier, das ist ein Problem für mich. Ich möchte Dir so nahe sein. Das kann ich hier nicht. Darum komme ich so selten und gehe wieder so schnell. Zu Hause stehen Bilder von Dir, in meinem Herzen hast Du sowieso Deinen festen Platz. Aber mir fehlt Dein Grab. Ich möchte so gerne an Deinem Grab stehen. Glauben, dass ich Dir dort nahe sein kann. Verstehst Du das, Mama?“

„Heute war ich Dir doch nahe, nicht wahr, meine Kleine?“

Mein Kiefer begann zu schmerzen, wie immer, wenn ich mit den Tränen kämpfen muss. Ich sah, wie sie langsam vor meinen Augen verschwamm, während endlich die Tränen flossen.

„Geh nicht weg, Mama!“, flüsterte ich.

„Ich bin ja nicht weg, Kleines, das weißt Du doch.“

„Ja, aber ich vermisse Dich so sehr! Es tut immer noch so weh!“

Ein Windhauch streifte mein Gesicht, wie ein zarter Kuss. Dann war sie fort. Die grüne Wiese unberührt wie immer.

Von der obersten Spitze einer Birke begann eine Amsel zu singen. Ich setzte mich auf die Bank und lauschte ihr eine Weile.

Dann stand ich auf, warf der Wiese eine Kusshand zu und verließ den Friedhof.

 Das Lied der Toten Hosen habe ich auf der Beerdigung meiner Mutter spielen lassen.

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14 Antworten zu Nie hast Du Zeit oder Unterm Grünen Rasen

  1. kreadiv schreibt:

    Ein wunderschönes Gespräch…
    sei herzlich umarmt
    Andrea

    • In der Phantasie können die Gespräche ja weitergeführt werden. Das hat etwas sehr tröstendes. Das Lied der Toten Hosen habe ich auf der Beerdigung meiner Mutter spielen lassen. Ich habe das Zusammenzucken der Gäste förmlich im Rücken gespürt, als es angekündigt wurde. Aber anschließend mussten alle zugeben, dass es sehr passend ist. Campino hatte es zum Tod seiner Mutter geschrieben.
      Liebe Grüße,
      Elvira

  2. Barbara xcharix schreibt:

    Ein nachdenklich machender Blog. Gefällt mir aber sehr gut.
    Wenn ich doch nur meine Kinder mal dazu bringen könnte, mir ihre Meinung dazu zu sagen, aber sie scheuen das Thema und meinen *Mama du bist ja noch so jung*
    Aber was hat sterben denn mit dem Alter zu tun?
    Liebe Elvira, ich lass dir ganz viele herzliche Grüße hier, Barbara

  3. Das ist wirklich ein Problem. Tod verbinden wir, trotz besseren Wissens, fast immer mit „alt“ oder „krank“. Dass meine Mutter sich für eine anonyme Beerdigung entschieden hatte, wussten meine Brüder und ich. Was ich nicht vermutet hätte, war, dass ich damit Probleme haben könnte. Und so war es heute eben auch. So schön diese Anlage auch gestaltet ist, so bleibt sie doch anonym.
    Mit den Kindern zu sprechen ist schon wichtig. Ihre Meinung zu kennen, beeinflusst ja unsere Vorsorge.
    Nun steht aber Ostern vor der Tür. Ein fröhliches Fest! Also lasst uns feiern!

  4. paradalis schreibt:

    Oh je, liebe Elvira. Jetzt bin ich traurig. Und nachdenklich.
    Das hast du sehr berührend geschrieben.

    Weißt du, ich möchte ja eine Seebestattung, wenn es mal soweit ist, und noch ist meine Tochter damit einverstanden.
    Wird sich das ändern?
    Wird sie jemals ebensolche Gespräche führen? Sich wünschen, sie hätte einen festen Platz für mich?

    Ach Mensch …

    Dich drücke ich jetzt mal. Ganz fest!
    Liebe Grüße
    Heike

  5. Hallo, Heike!
    Es geht mir nicht mehr schlecht mit dem letzten Wunsch meiner Mutter. Es war am Karfreitag nur wirklich so, dass ein altes Ehepaar auf der einzigen Bank saß, und ich meine Hortensie in diesen dafür vorgesehenen Platz steckte und wieder ging. Und mir fiel ein, dass meine Mutter zu Lebzeiten äußerte, wie wenig Zeit ich für sie hätte. Und just in dem Moment nahm ich mir wieder keine Zeit.
    Weißt Du, dass man eine Urne nicht so einfach mal umbetten kann? Die Totenruhe ist bemessen nach der Verwesungszeit des Menschen. Bei Erwachsenen sind das sechs Jahre. Und das gilt auch für eine Urne!!! Ich wollte anfangs die Urne meiner Mutter in ein Urnengrab überführen lassen. Mein Bruder hat mich dann davon abgehalten.
    Meine Kinder wollen auch nicht mit mir über Eventualitäten sprechen. Ich habe meinen letzten Willen schriftlich festgehalten – inklusive Musikwünsche(!) – und schicke den, immer mal wieder aktualisiert, meinen Kids als Email. Über kurz oder lang werden wir darüber sprechen müssen. That´s life;-)
    Liebe Grüße
    Elvira

  6. april schreibt:

    Sehr berührend. Deine Mama hat es gut gemeint, aber es sind letztlich die Angehörigen, die mit diesen Entscheidungen leben müssen. Ich habe mir auch schon einiges überlegt; es macht mir nichts, darüber zu sprechen oder es aufzuschreiben.

  7. sweetkoffie schreibt:

    Danke, liebe Elvira, für die beiden interessanten Links.
    Gerade dieser Artikel hier, geht genau in die Richtung, in die ich auch denke.

    Herzliche Grüße
    SK

    • Elvira schreibt:

      Gerade jetzt würde ich so gerne ihr Grab bepflanzen, so sie eines hätte. Fast alle sagen, ich könne ja auch eine Blume an ein Foto stellen. Klar, sie haben Recht – aber auch wieder nicht. Schwieriges Thema!

  8. Pingback: A final resting place… « Grenzwanderer

  9. piri ulbrich schreibt:

    Weißt du, liebe Elvira, ich habe meinen Mann im Herzen. Er ist gar nicht auf dem Friedhof, er ist immer um uns rum… Deine Mutter ist auch da, wo du bist – überhaupt, unsere Toten sind da, wo wir an sie denken.

    • Elvira schreibt:

      Als vor zwei Jahren meine Freundin starb, fragte ich ihren Mann, ob er sie nicht vermissen würde, wenn sie fern von ihm in der Heimat in ihrem Wald beigesetzt würde. Er benutzte fast Deine Worte. Ja, meine Mama und mein Bruder sind in meinem Herzen. Und dennoch…

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