Das Gurren von Tauben

Ich habe sie nie als Ratten der Lüfte bezeichnet, denn sie gehören zu den ersten Kindheitserinnerungen, die rundum positiver Natur sind. Meine Mutter war während meiner ersten Lebensjahre alleinerziehend (ihr Ehemann reichte die Scheidung ein, als er erfuhr, dass er ein Kind gezeugt hat. Er mochte keine Kinder. Die Scheidung wurde nach meiner Geburt ausgesprochen. Somit galt ich als ehelich und mein biologischer Vater war unterhaltspflichtig). Oft schlief ich bei meinen Großeltern mütterlicherseits. Wenn ich morgens in der Besucherritze aufwachte, hörte ich das Gurren der Tauben im Hinterhof. Mein Opa hatte dann schon den Badezimmerofen angeheizt und meine Oma bereitete das Frühstück. Während ich mich noch einmal in diese wunderbar duftende, etwas steife Bettwäsche kuschelte.

Aus diesem Grund freute es mich, als vor einigen Jahren ein Ringeltaubenpärchen begann, zur Winterfütterung unseren Balkon zu besuchen.

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Als ich vor drei Wochen die Abendrunde mit dem Hund ging, saß eine Ringeltaube unter einem Auto, dicht am Bordstein. Sie schien keine äußeren Verletzungen zu haben. So genau war das aber nicht zu erkennen. Als ich die Runde beendete, saß sie immer noch dort. Würde das Auto losfahren, hätte die Taube keine Chance, denn der Fahrer würde sie übersehen. Also band ich meinen Hund an einer Laterne fest und zog mir Handschuhe an (ich habe immer zwei Paar dabei, da ich dem Hund des öfteren Papiertaschentücher aus der Schnauze ziehen muss. Er liebt diese vollgerotzten Teile, die leider überall herumliegen, weil es zuwenig Abfallbehälter gibt oder viele Menschen einfach Schweine sind. Das Papierfressen ist nicht so schlimm für den Hund. Nur der Gedanke, was er da ansonsten mitfrisst…). Ich habe die Taube, die kaum Widerstand leistete, auf die andere Straßenseite zwischen die Sträucher eines Grünstreifens gesetzt. Sie schlug kurz mit den Flügeln und lief zwei drei Schritte. Dann setzte sie sich wieder hin. Genau an dieser Stelle saß sie auch noch am nächsten Morgen. Ich verkürzte die Hunderunde und schnappte mir einen Stoffeinkaufskorb. Solch einen, der sich oben mit einem Reißverschluss verschließen lässt. Dann zog ich mir wieder Handschuhe an, ging runter und setzte die Taube in den Korb. Sie sah mich interessiert an. Sage keiner, Vögel würden keinen Gesichtsausdruck haben! Ich stellte den Korb mit leicht geöffnetem Deckel auf den Balkon und stellte eine Schale Wasser vor das Täubchen. Dann durchforstete ich das Netz nach Anlaufstellen für verletzte Wildvögel. Ich wurde sehr schnell fündig. Durch einen Tagesspiegel-Artikel fand ich die Praxis von Sonja Kling und dann die Vogelklappe von Almut Malone. Beiden sprach ich auf den Anrufbeantworter und bat um Hilfe. Beide Frauen meldeten sich sehr schnell bei mir. Wir verabredeten, dass ich die Taube in die Vogelpraxis bringen sollte. Frau Malone holt dort regelmäßig verletzte und behandelte Wildvögel, auch Tauben, ab und pflegt sie bis zur Auswilderung. Ich rief auf meiner Arbeitsstelle an und teilte meiner Kollegin mit, dass ich mich eventuell etwas verspäten würde. Dann machte ich mich auf den Weg zur U-Bahn. Eine knappe Stunde später saß ich im Wartezimmer zwischen Menschen mit ihren gefiederten kranken Freunden in Käfigen und Schachteln. Kurz nach mir kam eine Frau mit zwei kleinen Transportkäfigen, in denen je eine Taube saß. Sie erzählte mir, dass die beiden heute von Frau Malone in deren Obhut übernommen würden. Nach einer halben Stunde war ich an der Reihe. Meine Taube wurde aus dem Korb, den ich aus hygienischen Gründen dort ließ,  in eine andere Box gesetzt. Nach Aufnahme meiner Personalien bin ich wieder gegangen. Irgendwie fehlte mir etwas. In der U-Bahn hatte ich immer wieder in den Korb geschaut und hatte das Gefühl, dass die Taube zurückschaute, mir irgendwie vertraute. Und nun war sie nicht mehr da.

Am Nachmittag rief ich in der Praxis an und erkundigte mich nach meinem Täubchen. Sie musste eingeschläfert werden, da eine nicht operierbare Kehlkopferkrankung ihr das Atmen immer schwerer machte.

 

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6 Antworten zu Das Gurren von Tauben

  1. JobcoachingBonn schreibt:

    Ach je, wie traurig…liebe Grüße Leonie

  2. quiltfru schreibt:

    Eigentlich kann man da ja nicht den Gefällt mir Button drücken. Dazu ist es zu traurig. Ja, auch Tauben haben ein Recht auf Leben und ich finde es total lieb von Dir, Dich um das Wesen gekümmert zu haben, auch wenn das Ergebnis nicht schön war. Aber besser eingeschläfert, als krepiert. Liebe Grüße Birgitt

  3. Gudrun schreibt:

    Ein Gutes hat es, liebe Elvira. Das Täubchen musste sich nicht quälen. Ich weiß, so richtig tröstet das nicht.
    Meine Mutter hatte mir als Kind schon beigebracht, dass jemand, der keine Tiere liebt, auch keine Menschen mag. Du hast ein weites Herz, liebe Elvira.
    Liebe Grüße von der Gudrun.

  4. Ulli schreibt:

    ich finde den Begriff „Flugratten“ so was von fürchterlich!
    Aber deine Aktion, liebe Elvira, spricht von großem Mitgefühl, danke!
    herzliche Grüße
    Ulli

  5. Ruthie schreibt:

    Das finde ich echt lieb von Dir, dass Du Dir die Mühe gemacht hast. Ich mag Tauben eher nicht.Das hat mit Kackhaufen unter dem Nest am Dachfirst und Ungeziefer zu tun…

  6. aussteiger geno schreibt:

    bei mir ist ein schwalbenpärchen ins haus gezogen. sie haben ihre jungen ausgebrütet und sind dann auch noch mit uns in ein anderes gebäude umgezogen. sehr anhänglich.
    https://campogeno.wordpress.com/2015/09/13/die-schwalben-haben-uns-wieder-gefunden/

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