Ich habe meinem Engel die Flügel gestutzt. Zu aufdringlich wurde er. Seit Jahrzehnten schreibt er mir vor, was ich tun und was ich nicht tun soll. Zu meinem Schutz, wie er sagt. Denn er nennt sich Schutzengel. So ein Quark! Ich erinnere mich sehr wohl an Zeiten, wo ich ihn dringend gebraucht hätte. Wo war er denn, als ich mich von meiner Großmutter losriss und über die Straße rannte? Hat er mich zurückgehalten? Nein! Er ließ mich einfach ins Auto rennen ohne mich zu warnen. Nun gut, vielleicht hat er sich zwischen mich und das Auto geworfen. Ich habe es jedenfalls überlebt. Nur mit dem Rennen war es für viele Monate vorbei. Da saß er auf meinen Gipsverbänden und hielt lange Vorträge über seine Funktion und dass ich ihm besser zuhören solle und überhaupt. Als ob das Gerede und Gezeter meiner Eltern und Großeltern nicht schon genug waren. Offensichtlich hat er aber auch ein schlechtes Gewissen gehabt. Solche schlimmen Unfälle passierten nie wieder. Dafür andere. Schlechte Schulnoten, falsche Freunde, verkorkste Lieben, mieser Job. Wo war er da bitte? Hat er geschlafen? War er verreist? Mit anderen Enegelkumpeln in der Kneipe auf ein Bier? Warum hat er mir nicht geholfen bei den Hausaufgaben? Ich musste echt ackern, um schließlich das Superabi zu machen. Warum hat er mich nicht vor den Freunden gewarnt, die keine waren? Mann, war das eine Scheißzeit, als die mich alle verarscht haben und plötzlich weg waren. Weshalb ließ er mich falsche Männer lieben? Warum die Hormone bestimmen und nicht die Vernunft? Dann wäre ich nicht diesem Typen verfallen und hätte meine Karriere den Bach runtergehen lassen. Würde nicht diesen bescheuerten Job machen müssen, weil der Typ längst über alle Berge ist. Hey, wo warst du da?, frage ich dich.
Dabei habe ich immer auf den Geflügelten gehört, wenn ich ihn denn hören konnte. Manchmal war er echt laut. Dann ließ ich das Bier prompt fallen oder ging am Dealer schnell vorbei. Aber damit ist nun Schluss! Ich werde jetzt saufen, rauchen, kiffen, koksen und schmutzigen Sex haben. Mal sehen, was mein Engel dann macht. Hockt er sich schmollend ins Eck? Oder beschwert sich bei der Engelgewerkschaft? Vielleicht will er mich auch eintauschen? Oder schaut er neidisch zu? Weil er all das nicht haben kann?
Irgendwie tut er mir leid. Da haust er jahrelang bei mir und dann das. Fühlt er sich als Versager? Scheiß was drauf! Ich ziehe mein Ding jetzt durch!
Auf dem Rand des Monitors sitzt leise vor sich hinlachend ein kleines Männchen und putzt sich mit einem feinen Tuch seine kleinen Flügel. Sorgfältig legt er das Tuch zusammen und schaut wohlwollend auf die Schreiberin, deren Finger laut die Tasten traktieren. Er würde sie auch durch diese trotzige Zeit begleiten und darauf achten, dass sie keinen zu großen Schaden nimmt. Das hat er immer gemacht. Auch wenn ihr das nicht bewusst ist. Er ist schließlich nicht bei ihr um sie zu erziehen. Er muss sie nur beschützen. Manchmal auch vor sich selber.
Das erinnert mich wieder daran, dass auch Verluste und Fehlschläge bereichernde Erfahrungen (zu etwas gut) sein können. Natürlich könnte ‚man‘ vielleicht auch in Watte gepackt und von einem Engel beschützt irgendwie vor sich hinleben, aber damit entginge man dann auch einem bestimmten Erfahrungs_schatz_.
Und Schätze wollen ja meistens wohl irgendwie ausgegraben werden 😉
Oha, Elvira, da hast Du aber jetzt einiges vor. 🙂
Oh, nein! Wieder reine Fiktion. Die Idee setzte sich im Kopf fest, als ich bei Ulli von Engeln las und ich mich an die Punks erinnerte, die ich am Sonntag sah. Sie leben unter einer S-Bahnbrücke. Vor dem Sammelbecher ein Pappschild: for beer and weed. Na, ja, und plötzlich war eine kleine Geschichte da.
Liebe Grüße,
Elvira
Ja ja, das Kino im Kopf braucht manchmal nur kleinste Anreize für große oder kleine Geschichten.
Sei ganz lieb gegrüßt
Eva
Liebe Elvira! Eine gelungene Geschichte, vor allen Dingen im ersten Absatz, als ich den Ärger, die Wut, den Trotz spüren konnte … und während ich las, dachte ich an eines meiner Lieblingsgedichte von Rilke:
ich sag schon mal tschüss und grüsse dich herzlich, freue mich, wie es hin und herschwingt!
Ich ließ meinen Engel lange nicht los…
Ich ließ meinen Engel lange nicht los,
und er verarmte in meinen Armen
und wurde klein, und ich wurde groß:
und auf einmal war ich das Erbarmen,
und er eine zitternde Bitte bloß.
Da hab ich ihm seinen Himmel gegeben, –
und er ließ mir das Nahe, daraus er entschwand;
er lernte das Schweben, ich lernte das Leben,
und wir haben langsam einander erkannt …
Seit mich mein Engel nicht mehr bewacht,
kann er frei seine Flügel entfalten
und die Stille der Sterne durchspalten, –
denn er muß meine einsame Nacht
nicht mehr die ängstlichen Hände halten –
seit mein Engel mich nicht mehr bewacht.
Hat auch mein Engel keine Pflicht mehr,
seit ihn mein strenger Tag vertrieb,
oft senkt er sehnend sein Gesicht her
und hat die Himmel nicht mehr lieb.
Er möchte wieder aus armen Tagen
über der Wälder rauschendem Ragen
meine blassen Gebete tragen
in die Heimat der Cherubim.
Dorthin trug er mein frühes Weinen
und Bedanken, und meine kleinen
Leiden wuchsen dort zu Hainen,
welche flüstern über ihm …
Wenn ich einmal im Lebensland,
im Gelärme von Markt und Messe –
meiner Kindheit erblühte Blässe:
meinen ernsten Engel vergesse –
seine Güte und sein Gewand,
die betenden Hände, die segenende Hand, –
in meinen heimlichsten Träumen behalten
werde ich immer das Flügelfalten
das wie eine weiße Zypresse
hinter ihm stand …
Seine Hände blieben wie blinde
Vögel, die, um die Sonne betrogen,
wenn die andern über die Wogen
zu den währenden Lenzen zogen,
in der leeren, entlaubten Linde
wehren müssen dem Winterwinde.
Auf seinen Wangen war die Scham
der Bräute, die über der Seele Schrecken
dunkle Purpurdecken
breiten dem Bräutigam. Und in den Augen lag
Glanz von dem ersten Tag, –
aber weit über allem war
ragend das tragende Flügelpaar …
Um die vielen Madonnen sind
viele ewige Engelknaben,
die Verheißung und Heimat haben
in dem Garten, wo Gott beginnt.
Und sie ragen alle nach Rang,
und sie tragen die goldenen Geigen,
und die Schönsten dürfen nie schweigen:
ihre Seelen sind aus Gesang.
Immer wieder müssen sie
klingen alle die dunklen Chorale,
die sie klangen vieltausend Male:
Gott stieg nieder aus seinem Strahle
und du warst die schöne Schale
Seiner Sehnsucht, Madonna Marie.
Aber oft in der Dämmerung
wird die Mutter müder und müder, –
und dann flüstern die Engelbrüder,
und sie jubeln sie wieder jung.
Und sie winken mit den weißen
Flügeln festlich im Hallenhofe,
und sie heben aus den heißen
Herzen höher die Strophe:
Alle, die in Schöhnheit gehn,
werden in Schöhnheit auferstehn.
Rainer Maria Rilke (1875-1926)
Wie wunderschön!
oh … du kanntest es noch nicht? Da freue ich mich sehr 🙂
herrlich, deine Geschichte. Ich hoffe, du bleibst gesund und alles ist in Ordnung bei dir
Pingback: Rückblick – 3 – |
Eine schöne Geschichte, liebe Elvira.
Dein Engel hat aber ganz schön die ruhe weg. Ich meine, nach den Ankündigungen versieht er treu und brav seinen Dienst. 🙂
Liebe Grüße von der Gudrun
oh, bei mir ist es nur eine kleine Ruhe geworden