In der Reha im letzten Jahr habe ich einen Kurs Yoga belegt. Während der Entspannungsphase wurden wir aufgefordert, ein Bild zu visualisieren, bei dem sich ein Wohlgefühl einstellen sollte. Mir fiel das nicht schwer. Damals bin ich in den fünf Wochen fast täglich bereits vor dem Frühstück (ich bin Frühaufsteherin, mein Hund hat mir darin den letzten Schliff gegeben) an den Strand gegangen. In der Regel war ich dann ganz alleine dort. Es war der ruhigste Moment des Tages, wenn ich im Sand saß, den Geräuschen der Wellen und des Windes lauschte und alles um mich herum vergessen konnte. Dieses Bild ließ sich also schnell aufrufen. Zum Abschluss der Reha sollten wir aufzählen, was wir mitnehmen würden, welche Dinge und Erfahrungen uns positiv in Erinnerung bleiben würden. Die morgendlichen Strandrunde stand bei mir an erster Stelle auf der Liste.
Im Laufe des Jahres habe ich diese Übung vergessen. Arbeitsstress, gesundheitliche Probleme, Spannungen im privaten Leben, der Rechtsruck in fast allen Ländern, Menschen, die ich plötzlich nicht mehr verstand, weil sie sich durch diffuse Ängste sehr veränderten, Gleichgültigkeit, wachsender Egoismus durch Streben nach absoluter Individualität – ach, es gab viel zu viel, womit ich mich auseinandersetzen musste. Oder meinte, es tun zu müssen. Dann lief ich in der letzten Woche nach einem wirklich extrem stressigen Arbeitstag durch unsere Siedlung. Es war nach 20Uhr. Ich war ganz alleine auf dem Weg. Und plötzlich sah ich die blühenden Kastanien. Ich sah die Enten auf dem Teich. Ich roch das frische Grün. Ich sah den blauen Himmel und die Schwalben, wie sie hoch oben ihre Bahnen flogen. Auf dem Dorfplatz setzte ich mich auf eine Bank und genoss diesen Moment. Ich vergaß alles um mich herum. Als ich wieder aufstand, spürte ich eine frische Kraft in mir. Es war, als ob sich meine Batterien mit neuer Energie aufgeladen hätten. Seither nehme ich meine Umwelt wieder bewusster wahr. Ich genieße es, wenn ich abends im Bett liege und draußen den Wettstreit zwischen der Nachtigall und dem knarzenden Frosch höre. Dazu das Plätschern des Gartenteiches meiner Nachbarin unter mir. Und plötzlich kann ich nur noch müde lächeln, wenn ich daran denke, dass andere Nachbarn Nachtigall und Frosch am liebsten abknallen möchten, weil die beiden sie am Schlafen hindern. Vielleicht ist das wirklich ein Problem für Menschen, die an Schlafstörungen leiden. Ich leide nicht darunter und lasse mich von Trillern und Quaken in den Schlaf begleiten.
Es gibt für mich viele Orte, an die ich denken kann, wenn ich die Yogaübung mache. Da ist der See hoch oben in den Alpen, an dem ich mutterseelenallein saß und den Blick weit über die Gipfel schweifen lassen konnte. Oder die riesige Trauerweide am Lietzensee. Es ist die Wiese, auf der ich liege, in den Himmel sehe und wo es nach Gras und Kühen riecht. Manchmal sehe ich mich am Fuße der Kata Tjuta liegen und fühle den Puls dieses Kontinents wieder, der sich mit meinem verband. Und dann ist da natürlich noch das Meer. Wenn es so scheint, als stürze der Himmel über mir ein, wenn ich fassungslos bin ob all des Mülls (dem realen und dem ideologischen) und ich mich am liebsten in einer Ecke verkriechen möchte, dann stelle ich mir einen dieser Orte vor. Oder ich denke daran, wie genau an jenem Abend in der letzten Woche, mein Mann mich mit einem lecker gedeckten Tisch überraschte. Oder an den liebevoll von fast allen Nachbarn gestalteten Hof des Mietshauses, in dem Sohn 2 mit Familie wohnt. Ach, es gibt so viele Möglichkeiten der kleinen Fluchten. Und wenn es eine Tasse Kaffee und ein Stück Torte in einem Café sind. Ich schließe damit keineswegs die Augen vor den Problemen da draußen, das sicher nicht. Aber ich lasse sie nicht über mein Wohl bestimmen.
Vor meinem Schlafzimmerfenster singt seit drei Wochen eine Nachtigall. Ich weiß, dass nur Junggesellen singen und ich wünsche mir einerseits, dass er bald ein Weibchen findet und gleichzeitig wünsche ich mir, dass er noch ein Weilchen singt. Leute, die das gerne ruhiger hätten, gibt es hier auch.
Die Probleme nicht über das Wohl entscheiden lassen, klingt gut. Fast ein wenig trotzig.
mir gelingt das nicht immer. Leider.
Liebe Grüße von der Gudrun.
Guter Ansatz, liebe Elvira. Doch mir, wie Gudrun das auch schon schrieb, gelingt das leider nicht immer … aber immer öfter. Nicht alle Probleme sind für uns persönlich gemacht.
Liebe Grüße nach Berlin
Eva
PS: Eine attraktive Collage kleiner Fluchten hast Du erstellt.
Ja, das kann ich nachvollziehen. Mir geht es oft so, dass ich in einem Strom von Tätigkeiten schwimme – und ganz plötzlich schalte ich um und versinke in Sinneseindrücken – und wenn es nur Blicke zum Himmel sind mit tiefen Atemzügen und dem Spüren, wie grandios diese Welt doch ist…