Am Samstag erzählte meine Schwiegertochter eine Geschichte ihres Opas, wie er eine Voliere für Wellensittiche in seinem Garten baute. Der Opa ist schon ist schon lange tot. Ich habe ihn aber noch kennenlernen dürfen, als wir bei den Eltern meiner Schwiegertochter Welpen gucken waren und uns in unseren Hund verliebten.
Letzte Nacht habe ich von meinem Opa geträumt. Das erste Mal seit unendlichen Zeiten. Vor 49 Jahren ist er plötzlich gestorben, völlig überraschend. Ich war gerade 18 Jahre jung und natürlich traurig. Aber auch gerade ganz frisch verliebt. Die große Trauer sollte erst später kommen.
Ich habe meinen Opa heiß und innig geliebt. Dabei war er gar nicht mein „echter“ Opa. Der ist lange vor meiner Geburt gestorben. An einer Krankheit, die er mir mit in die Wiege gelegt hat. Lungen-TBC.

Das ist der Opa, den ich nie kennengelernt habe, mit meiner Oma an ihrem Hochzeitstag.
Und das ist der Opa, den ich geliebt habe

Ich weiß nichts über ihn, gar nichts. Und ich kann niemanden mehr fragen. War er im Krieg? Wie waren seine politischen Überzeugungen? Welche Musik liebte er? Wovon träumte er? War er glücklich? Keine Fragen, die ein Kind stellt. Und doch reicht das karge Wissen für die kindliche Liebe!
Mein Opa hat mir das Lesen beigebracht. Dabei rauchte er Zigarren. Ein Geruch, den ich mochte und den ich seither nur noch selten gerochen habe. Später durfte ich die Rabattmarken , die es damals in fast allen Lebensmittelgeschäften gab, in die leeren Zigarrenkisten sortieren und dann in die Hefte kleben.
In der ersten Klasse wurde ich krank, Lungen-TBC. Ich war lange von zu Hause weg. Zuerst im Krankenhaus. Isoliert. Gespräche mit den Eltern und Großeltern konnte ich nur mit einem Telefon führen. Wie in den amerikanischen Serien, in denen Gefängnissinsassen auch nur über ein Telefon, getrennt durch eine Glasscheibe, mit ihren Besuchern kommunizieren können.

Das bin ich im Krankenhaus, der Lungenklinik Heckeshorn in Berlin Wannsee nach der Isolation. Ich erinnere mich an Spritzen, an viele große Tabletten und schreckliche Bronchoskopien. Jedenfalls denke ich, dass das welche waren. Ich erinnere mich an den Gummigeschmack vom Schlauch, der mir in den Hals gesteckt wurde. Im Radio liefen Schlager. Ein Schiff wird kommen und Weiße Rosen aus Athen. Einmal saß ich, an die Wand gelehnt, auf dem Gitter des Kopfteils vom Bett. Ein größeres Mädchen zog das Bett weg und ich fiel vom Bett. Eine Narbe am Hinterkopf ist bleibende Erinnerung. Wenn ich beim Frisör die Haare raspelkurz schneiden lasse, muss ich die Frisörin darauf aufmerksam machen. Dort wachsen keine Haare mehr. Mein Opa hat mir das Lesen vor der Einschulung beigebracht. Das war meine Rettung! Wann immer es möglich war, flüchtete ich mich in Bücher.
Nach dem Krankenhaus kam ich zur Rehabilitation in eine Einrichtung für Kinder nach Scheidegg im Allgäu. Es war eine konfessionelle Klinik. Mein Opa hat mich zu Weihnachten dort besucht. In unserer Familie besaß niemand ein Auto. Er muss also mit dem Zug, vielleicht auch dem Bus, angereist sein. Ich weiß nicht, wo er wohnte und ich kann mich auch nicht daran erinnern, ob er Geschenke mitgebracht hat, was sicher der Fall war. Meine Mutter hatte weder die Mittel noch die Zeit, mich zu besuchen. Es waren schließlich noch zwei kleine Söhne zu versorgen. Ich weiß auch nicht, wie lange mein Opa blieb. Aber ich erinnere mich an das warme Gefühl seiner Anwesenheit.




Der Besuch meines Opas half mir über den Besuch vom Knecht Ruprecht hinweg. Alle Kinder waren in einem großen Raum versammelt. Die Mädchen auf der einen, die Jungen auf der anderen Seite. So viele Kinder! So viele noch so klein.

Einige Kinder wurden in ihren Betten in den Saal geschoben. Knecht Ruprecht las die Namen von Kindern vor, die unartig waren. Dazu gehörten auch Daumenlutscher. Also auch ich. Ich hatte furchtbare Angst. Aber mein Name war nicht auf der Liste. Ich habe noch viele Jahre am Daumen genuckelt. Und mir wird klar, warum ich später psychische Probleme bekam. Wieviele der Kinder auf dem Foto wohl auch?
Irgendwann war Fasching. Meine Tante, eine Schneiderin, nähte mir ein Kostüm, an das ich mich noch ganz genau erinnern kann. Es war aus goldfarbenen Taft. Plastikblumen waren darauf genäht. Eine Krone gehörte auch dazu. Ich ging als Blumenkönigin. Hatten wir Spaß? Vielleicht. Aber wenn ich so in die Augen des Kindes in der Mitte sehe…

Meinen allerersten Film sah ich dort. Freddy Quinn, Die Gitarre und das Meer. Und mir wurde ein Milchzahn gezogen, weil der einfach nicht ausfallen wollte, obwohl der bleibende Zahn mächtig drängelte. Ich bekam eine Maske übergestülpt und wurde mit Äther betäubt. Auch eine bleibende Erinnerung. Und der einzige Zahn, der mir bisher gezogen werden musste.
ich musste bis nach Ostern in der Klinik bleiben. Wie ich dort hin kam und auch wieder nach Hause, weiß ich nicht mehr. So viel Erinnerungen fehlen mir! Aber meinen Opa werde ich nie vergessen. Es gibt so gut wie keine Bilder von uns beiden zusammen. Wenn wir später verreisten oder Ausflüge machten, war er der Fotograf. Aber ein Foto habe ich gefunden. Es wurde etliche Jahre später bei einem Ausflug in den Botanischen Garten aufgenommen. Ich war vielleicht 13 oder 14 Jahre alt.

Es war schön, von meinem Opa zu träumen!
Das alles hat mich sehr angerührt, besonders das, was du über die Zeit in den Kliniken schreibst, schon allein ein schlimmes Trauma…Der Opa war wohl auch so eine Art Überlebensengel für dich!?
Ja, das war er!
Die Kliniken hast Du überstanden. Das liest sich alles sehr berührend. Wenn man älter wird arbeitet man die Kindheitserinnerungen auf. Schön das es Dir jetzt besser geht.
Bei Lesen wandern gerade meine Gedanken ab – in ähnliche Richtung wie Deine es wohl taten….
und erinnern mich an ein Projekt, dass ich vor Jahren mal begonnen habe:
Aufzuschreiben, was an Kindheitserinnerungen noch übrig geblieben ist (den leeren Menuepunkt in meinem Blog „Wurzelwerk“ schleppe ich ja schon lange mit mir rum).
Alllerdings hatte ich in dieser Richtung in meinem alten Blog schon mal was geschrieben – vielleicht sollte ich das mal wieder hervorholen….
Du hast deinem Opa hier ein ehrendes Denkmal gesetzt. Ein besseres gibt es nicht, denn es ist voller Liebe und Zuneigung.
An einen Fasching in einer Kinder-Kur-Klinik erinnere ich mich auch. Meine Mutter hatte genäht und aus mir wurde eine tolle Katze. Freude am Feiern und der erzwungenen Lustigkeit hatte ich damals nicht. Damals war eine Zeit, in der ich viel geweint habe.
Vielleicht ist deshalb so ein Faschingsmuffel aus mir geworden.
Liebe Elvira, ich schicke dir liebe Grüße. Und es ist gut, in alten Erinnerungen zu kramen, das Gute festzuhalten.
Manchmal kommen Erinnerungen wie aus dem Nichts. Da reicht eine Erzählung oder ein Geruch. Wenn es dann noch Fotos gibt, die die Erinnerungen untermauern, ist es gut. Denn immer wieder lese ich, dass ein Großteil aller Erinnerungen falsch ist.
Liebe Grüße
Elvira
Auf dem Bild mit den Faschingskindern guckt keines der Kinder fröhlich. In den Augen aller liegt unsägliche Traurigkeit. Ja, früher war TBC noch echt was Schlimmes. Heute kann man dagegen impfen. Mein Mann hat in seiner Dienstzeit aber immer noch sehr viele TBC-Kranke gehabt. Hauptsächlich aus Indien, Pakistan, Anatolien und anderen armen Ländern. Ich hoffe, dass Du so etwas nie wieder durchmachen musst. Alles Liebe, Birgitt
Deine Erinnerungen wecken in mir schlimme Bilder. Wegen meiner Lunge wurde ich im Vorschulalter so ’59 oder ’60 verschickt. Kontakt zu Verwandten war in der Zeit nicht erlaubt, damit die kleinen Kinder sich eingewöhnen und gesunden. So hatte man keine Möglichkeit Hilfe zu erhalten. Auch was du erlebt hast, hatte sicher Einfluss auf dein weiteres Leben. Dein Opa muss ein Segen gewesen sein, auch wenn er dir das Leid nicht abnehmen konnte.
Ich war 1960/61 im Allgäu. Im Vorschulater war ich zwei lange Sommer lang bei Pflegeeltern in Norwegen. Davon habe ich keinen Schaden genommen, obwohl ich noch so klein war. Ich empfand diese Zeit als sehr schön! Anders als dann die Krankheit.
Ich war in einer Lungenheilstätte im Schwarzwald. Es gibt nur 2 Fotos von dort. Die suchte ich nach deinen Schilderungen. Ich wollte recherchieren wo genau ich war. Dann stieß ich auf die SWR Reportage, die das Grauen beschreibt. Wenn es dich interessiert: https://www.ardmediathek.de/video/betrifft/das-leid-der-verschickungskinder-was-geschah-in-den-kurheimen/swr-fernsehen/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9hZXgvbzE0MDg4Mjc/
Ich habe mir den Beitrag angesehen und bin erschüttert! Meine Erinnerungen sind nur sehr spärlich, aber solche Zustände gab es wohl nicht. Da waren kleine Ängste, wie das Öffentlichmachen meiner Daumennuckelei, aber keine Schläge oder Essenszwänge. Vielleicht habe ich auch vieles verdrängt. Erschreckend war für mich in dieser Reportage, was für Menschen Verantwortung trugen. Wie konnten Nazis Kinderkureinrichtungen leiten? Und wieder einmal waren es die Kirchen, die Christentum auf eine kranke Art interpretierten.