Vogelperspektive

Aus der Fundgrube der Wortbeflügler und weil es doch gerade so gut zum nahenden Frühling passt.

Bei meinem Spaziergang traf ich ein Vögelchen. Es saß auf einem Ast und zwitscherte vor sich hin. Fröhlich, wie es mir schien.
„Wie beneide ich dich um deine Flügel, dich erheben zu können und die Welt von oben zu sehen. Den Wind zu spüren und der Sonne nahe zu sein. Frei von Hindernissen, frei im Blick.“
Das Vögelchen zögerte keinen Moment mit der Antwort: „Wenn du wüsstest!“

© Valentiner

Vielleicht könnte es so weiter gehen?

Ich war doch sehr verblüfft als ich dieses zarte Stimmchen vernahm. Wollte mich jemand verschaukeln? Es war niemand zu sehen.
 „Du hast richtig gehört, Mensch!“, zwitscherte es von dem Ast. „Alle denken, wir hätten nur mit Franz von Assisi gesprochen. Aber wenn wir so einen Unsinn hören wie den, den Du gerade von Dir gegeben hast, können wir nicht schweigen. Die meisten erzählen es nur nicht weiter, um nicht für verrückt erklärt zu werden.“
Ich sah den Vogel zweifelnd an. Warum sollte ich mich nicht mit ihm unterhalten? Es hörte ja keiner weiter zu.
„Unsinn? Aber ich beneide Dich wirklich!“
„Also pass mal auf, Mensch. Es ist doch so: Etliche Tage liege ich in einer Kalkbehausung, es ist warm, wird immer enger, und ich bekomme Platzangst. Also nehme ich alle meine Kraft zusammen und knacke dieses Ding auf. Und was sehe ich da? Zwei Beine und einen Schnabel. Und es ist kalt und zieht, und ich habe Hunger. Das kannte ich vorher noch nicht. Also piepse ich wie blöd los, damit irgendwer mir was zum Fressen bringt. Der Schnabel über mir ist plötzlich weg, dafür setzt sich etwas auf mich. Hilfe! Aber schau an, mir wird wieder warm. Und dann steht das wärmende Ding wieder auf, der Schnabel ist wieder da und etwas Zappelndes fällt in mich rein. Das schmeckt! Und macht satt! Aber bald will ich mehr.
Langsam wachse ich und merke, dass die Beine und Schnäbel einem Muttervogel und einem Vatervogel gehören. Neben mir piepsen meine Geschwister. Gut, ich muss nicht verhungern, wachse, bekomme Federn – das piekt übrigens ganz schön!
Und wenn Du glaubst, es wäre doch so schön und gemütlich in meinem Nest, täuschst Du Dich aber gewaltig. Ein Geschwister konnte nicht mal schlüpfen, weil sich ein Eichkater das Ei zum Mittag geholt hat. Mein Bruder wurde von der Krähe entführt. Und Du glaubst nicht was für eine Angst ich auszustehen hatte, wenn der fette Kater um den Baum herumschlich.
Ganz schlimm war es beim Fliegen lernen. Hüpf Du mal von Ast zu Ast und übe, während der Kater unten schon die Krallen wetzt und nur auf einen Fehltritt wartet.
Und schließlich kannst Du fliegen und bist auf Dich alleine gestellt. Futter suchen ist vielleicht mühsam. Und Wasser finden erst. Klar ist da drüben der Teich. Aber da wohnt auch Familie Fuchs, da heißt es Aufpassen.
Und was heißt hier ´frei von Hindernissen´! Da musst Du schon so hoch wie ein Adler fliegen können oder das Ortungsorgan von Schwalben haben. Freier Blick! Schön wär’s! Und flieg mal im Hebst gen Süden. Das ist nicht nur anstrengend, nein, auch gefährlich. Da gibt es Vogeljäger. Die wollen mich jagen, töten und essen. Stell Dir das mal vor!
Und dann komme ich, wenn ich Glück habe, nächstes Jahr wieder, baue ein Nest und suche das passende Weibchen. Dann wird geheiratet und gevögelt  und Eier gelegt. Sind alle Jungen geschlüpft, heißt es, die ganze Brut großzufüttern.
Wenn die bei euch Menschen groß sind, ziehen sie aus und ihr habt eure Ruhe. Bei mir geht das ganze Theater im nächsten Jahr von vorne los, und dann wieder und wieder!
Erzähl Du mir was vom schönen freien Vogelleben!“.
Mit einem entrüsteten Tschilpen flog der Vogel davon. Von dieser Seite hatte ich das noch nie betrachtet. Aber ob ich jemanden von diesem Gespräch erzählen sollte? Lieber nicht!

© elvira v.

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Eine Antwort zu Vogelperspektive

  1. Gudrun schreibt:

    Du hast dich im wahrstem Sinne vom Wort beflügeln lassen, liebe Elvira. Das Projekt finde ich interessant und deinen Beitrag zur Vorlage auch.
    Gruß von der Gudrun

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